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"Alles wirkliche Leben ist Begegnung"

  • Jour fixe jeden Mittwoch im Gemeindebüro: "Anfangs saßen wir zu dritt dort, über die Jahre ist unsere Kaffeerunde zu einer Institution geworden und steht jeder und jedem offen. Ein fester Kern ist immer da, oft schauen auch Besucher, Touristen, neu eingetroffene Expats oder Reisegruppen vorbei. Die Kaffeemaschine läuft, alle sind herzlich auf eine Tasse Kaffee und zum Klönschnack eingeladen", schreibt Frank Borchers.
  • Aufnahme des ZDF-Gottesdienstes, im Hintergrund die ehemalige deutschbaltische Nikolaikirche: Der durch Nazideutschland Ende 1939 verordnete Auflösung der Gemeinde widersetzte sich eine Kerngemeinde, die in Estland trotz Umsiedlung verbleiben wollte. Durch die sowjetrussische Okkupation im Juni 1940 brach das Gemeindeleben endgültig zusammen. Bis heute ist der Auflösungsprozess formal nicht beendet, die Kirche aber trotzdem Museum im Eigentum der öffentlichen Hand. Anders als der Lübecker "Totentanz" , der 1942 im Bombenkrieg zerstört wurde, hat das Tallinner Schwesterstück den Krieg überstanden und kann heute in der Nikolaikirche bewundert werden.
  • Das Logo der Kirchengemeinde
  • Frank Borchers

Im Rahmen der Beziehung nach Estland gibt es Kontakte zu der Ev.-Luth. Deutschen Erlösergemeinde. Im folgenden Artikel erzählt Frank Borchers, Vorsitzender des Kirchengemeinderates, über die Gemeinde und die aktuellen Herausforderungen.

Etwa ein Jahr ist es her, dass unser wirkliches Gemeindeleben zum Erliegen gekommen ist. Standen wir zunächst noch erstaunt davor, konnten es kaum glauben, so haben wir mit der Zeit gelernt zu improvisieren und andere Wege der Gemeinschaft zu suchen. Einen wirklichen Ersatz haben wir indes nicht gefunden.

Das wichtigste Medium, unsere Gottesdienste, zeichnen wir wöchentlich auf und senden dann den Link unseren Freundinnen und Freunden sowie unseren Gemeindemitgliedern per E-Mail. So distanziert und unpersönlich ein Gottesdienst am Bildschirm ist, es hat für eine Gemeinde, deren Mitglieder weit verstreut sind, den Vorteil, dass wir damit weitaus mehr Menschen erreichen. Insofern überlegen wir im Gemeindevorstand derzeit, teilweise dieses Format zusätzlich auch nach der Pandemie beizubehalten.

"Jour fixe" vor der Coronapandemie

Die Herausforderungen einer sprachlichen Minderheitsgemeinde und zudem quasi einer Diasporagemeinde in einem atheistischen Umfeld sind zwar groß, gleichzeitig ist die deutsche Sprache für uns ein hilfreicher Türöffner, denn viele Deutsche, die zu Hause nicht in die Kirche gehen und auch keine Berührungspunkte mit kirchlichem Leben und Glauben haben, finden hier im Ausland den Weg zu uns, da wir neben unseren kirchlichen Angeboten auch soziale Veranstaltungsformate haben wie unseren „Jour fixe“ jeden Mittwochvormittag im Gemeindebüro, der vor der Corona-Zeit allen offenstand, und wo sich deutschsprachige Expats [hier gemeint: in Estland lebende Person mit deutscher Prägung/Auslandsdeutsche/r], Besucher, Interessierte oder Touristen einfanden. Neben einer festen Kaffeerunde aus unserer Gemeinde kamen immer wieder überraschende Gäste, manches Mal reichte der Platz kaum aus, und wir mussten Stühle aus dem Gemeindesaal hinzuholen. Das alles liegt derzeit brach. Insbesondere unter den älteren Menschen in unserer Gemeinde spüre ich die Last der Einsamkeit, die die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und auch unserer Gemeindearbeit mit sich bringt.

Ein weiterer Schwerpunkt, der seit eineinhalb Jahren ruht, ist der Besuch von kirchlichen Reisegruppen, die uns auf ihren Reisen durch das Baltikum meist am Ende ihrer Reise besucht haben. Mir persönlich hat diese Begegnung mit anderen Christen ganz besonders viel Freude bereitet und ich habe es genossen, aus unserem Gemeindeleben sowie aus unserer Geschichte zu berichten, aber auch allgemeine Fragen zu Religion und Politik zu beantworten und zu diskutieren.

Finanziell sind uns die Kollekten der Gottesdienste weggebrochen, gleichzeitig haben wir andererseits sehr große Solidarität von den treuen Unterstützern unserer Gemeindearbeit, insbesondere aus Deutschland, erfahren, die diese Ausfälle gedeckt haben. Gott segne Geber und Gaben!

Deutsche Erlösergemeinde: zum Hintergrund

Organisatorisch sind die deutschsprachigen evangelisch-lutherischen Gemeinden und Gruppen in Estland in der Deutschen Erlösergemeinde zusammengeschlossen. Unsere Gemeinde hat in den letzten 30 Jahren einen soziologischen Wandel durchgemacht, seit die Gemeinde nach der estnischen Wiederunabhängigkeit als deutsch(sprachig)e Gemeinde von überwiegend russlanddeutschen und verbliebenen baltendeutschen Lutheranern neu gegründet wurde. Formal hatte das deutsche Kirchenleben in Estland mit dem Hitler-Stalin-Pakt und der Umsiedlung der Baltendeutschen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges aufgehört zu existieren. Die Gemeinden mussten sich auflösen, das gesamte Kirchenvermögen wurde an eine (reichs)deutsche Treuhand, eine deutsche GmbH unter Kontrolle der SS, überschrieben und liquidiert. Der Erlös ging nicht an die (nicht mehr existierenden) Gemeinden, auch durften sich diese im so genannten Warthegau, wohin die Baltendeutschen umgesiedelt wurden, nicht wiedergegründet werden. Der estnische Staat hat seinerzeit 1939/40 die deutsche Treuhand für das Immobilienvermögen ausbezahlt, daher hat dieser Status Quo bis heute Bestand mit der Folge, dass zum Beispiel die Schwedische Gemeinde ihr Kirchengebäude in der Tallinner Altstadt, wo wir heute zur Miete unsere Gottesdienste abhalten, zurückbekommen hat, alle ehemals baltendeutschen Kirchen und Gemeindeimmobilien nicht restituiert wurden.

Geschichte wirkt, anders als in Deutschland, hier im Baltikum noch unmittelbar fort, das kam mir auch erst kürzlich wieder ins Bewusstsein, als es nach Verhandlungen staatlicher Stellen mit unserer estnischen Kirchenleitung um die (ehemals deutsche) Nikolaikirche in der Tallinner Altstadt ging: Noch 1940 hatte die deutsche Restgemeinde gegen ihre Selbstauflösung geklagt, es waren rund 2.000 Gemeindemitglieder in Estland verblieben, so genannte „Umsiedlungsverweigerer“, die lieber in der Heimat bleiben als „heim ins Reich“ wollten. Die sowjetische Okkupation vom Juni 1940 hat diesem Prozess ein praktisches Ende bereitet, ohne dass das Verfahren zu Ende geführt werden konnte. Die später verstaatlichte Kirche ist bis heute ein Museum, solange ich in Estland lebe, wurde dort ein einziges Mal ein deutschsprachiger Gottesdienst gefeiert. Nun hat sich unsere Kirchenleitung auf eine Abfindung mit den staatlichen Stellen geeinigt.

Estland, das vor dem Kriege noch ein tieflutherisches Land mit einer aktiven deutschen Minderheit war, ist durch die vom Zweiten Weltkrieg oktroyierten Wirren zu einem mehrheitlich atheistischen Land geworden. Heute sind unsere kleine deutschen Gemeindeteile eine verschwindende Minderheit, trotzdem geschätzt und in bester schwester- und brüderlicher Gemeinschaft mit den estnischen Gemeinden, die uns vielfach auch räumlich beherbergen. Unsere Gemeinde hat alles in allem nicht mehr als 120 Häupter, wovon formal gerade auf dem Lande einige Mitglieder in den örtlichen estnischen Gemeinden sind, aber trotzdem zu den in Tallinn und Tartu stattfindenden deutschsprachigen Gottesdiensten, Familienfreizeiten, Kindergottesdiensten und Gemeindestammtischen kommen. Gleichzeitig ist das Gebiet, in dem unser Pastor Matthias Burghardt die Gemeindemitglieder betreut, so groß wie etwa Belgien.

Die Mitglieder

Die Mitgliederstruktur hat in den letzten 30 Jahren einen enormen Wandel vollzogen: Während Anfang der 90er Jahre die Gemeinde einen Spiegel der deutschen Minderheit am Ende der Sowjetunion auf estnischem Gebiet abbildeten, dabei hauptsächlich Russlanddeutsche, die nach der Aufhebung der Verbannung von Sibirien ins Baltikum übersiedelten, und ehemalige Baltendeutsche, die aufgrund familiärer Bindungen und Familienverhältnisse 1939/40 und auch 1944/45 nicht nach Deutschland umgesiedelt oder geflüchtet sind, so ist heute die Generation der Russlanddeutschen und Baltendeutschen entweder ins Bundesgebiet ausgereist oder bereits verstorben, so dass neben denen in den Altersheimen zu betreuenden Mitgliedern der ersten Stunde, unsere Gemeinde hauptsächlich aus jungen zugezogenen Bundesdeutschen besteht, die entweder beruflich vorübergehend in Estland tätig ist oder die nach Estland umgezogen und verheiratet sind. So hat sich auch die Altersstruktur stark geändert, von einer überalterten Gemeinde zu einer jungen Gemeinde mit einer starken Jugendarbeit. Um die Wurzeln unserer Gemeinde nicht zu vergessen, haben wir eine russischsprachige diakonische Mitarbeiterin, Frau Marina Hammerbeck eingestellt, die unter anderem unsere russischsprachigen Mitglieder betreut, von den manche im Altersheim sind, oder die mit dem Auto abgeholt werden müssen oder Hilfe in Wort und Tat zuhause benötigen.

Zwei Menschen, die Marina betreut hat, sind in den letzten Monaten an Corona gestorben, unsere Frau Ursula, eine baltendeutsche Rücksiedlerin, die Anfang der 90er Jahre bei erster Möglichkeit aus Westdeutschland zurück in alte Heimat gekommen ist, und unsere Frau Valentine, unsere Gemeindeälteste, die 1924 im damaligen „Petrograd“ (heute St. Petersburg) geboren wurde. Solange es die Kontaktbeschränkungen erlaubt haben, hat Marian sie im Heim bzw. zu Hause besucht.

In unserer Tätigkeit wie in der Corona bedingten Zwangspause bestätigt sich die Aussage des Religionsphilosophen Martin Buber: "Alles wirkliche Leben ist Begegnung."

(Weiteres und Aktuelles zur deutschsprachigen Gemeinde in Estland ist zu finden unter: https://kirche.ee )

Kirche im Norden